Unser Experte für Langzeittherapie mit Psychopharmaka
Prof. Dr. med. Gerhard Gründer
Institution und Position: Leiter Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim.Lehrstuhlinhaber (W3) für Molekulares Neuroimaging an der Universität Mannheim und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Stand: 14.03.2018
Die Mitschrift des Interviews mit Prof. Dr. med. Gerhard Gründer zum Thema “Langzeittherapie mit Psychopharmaka”
Wie können psychiatrische Erkrankungen behandelt werden?
Generell ganz unabhängig von der Erkrankung, gibt es zwei wesentliche Säulen in der Therapie psychischer Erkrankungen. Das eine ist die Psychotherapie, das andere die medikamentöse Pharmakotherapie. Dazu kommen dann noch andere Begleittherapien, z.B. Soziotherapie, wir versuchen das soziale Umfeld des Patienten zu strukturieren, viele Patienten haben Probleme, Arbeitsplatzverlust, da werden wir stützend tätig. Wir beeinflussen auch Umwelt- und Umfeldfaktoren. Aber ganz generell, die wesentlichen Säulen sind Psychotherapie und Pharmakotherapie. Wenn man eine leichtere Störung hat, wird man ganz generell zunächst versuchen nur mit Psychotherapie alleine zurecht zukommen. Je schwerer die Erkrankung wird, desto eher wird man dann auch eine Pharmakoterapie mit in den Gesamtbehandlungsplan einbauen und bei ganz schweren Erkrankungen kann man oft einfach auch darauf gar nicht verzichten. Dann ist manchmal sogar die Psychopharmakotherapie das Schwergewicht der Behandlung in den ersten Tagen bis Wochen, um dann den Patienten vielleicht auch erst in einem Zustand zu bekommen, dass er therapiefähig wird.
Wann würden Sie eine medikamentöse Therapie empfehlen?
Es ist immer sehr vom einzelnen Patienten abhängig, wann eine medikamentöse Therapie indiziert ist. Ganz generell gilt, natürlich sehr von der Erkrankung abhängig, je schwerer eine Erkrankung wird, desto eher wird man eine Psychopharmakotherapie machen. Bei leichten Störungen wird man oft auf eine Pharmakotherapie verzichten können, da reichen oft ganz allgemeine Maßnahmen aus, manchmal schon eine kurze Psychotherapie. Je schwerer eine Erkrankung ist, je akuter sie auftritt, zum Beispiel im Rahmen einer Schizophrenie, desto eher wird man auf eine Pharmakotherapie zurückgreifen müssen.
Welche Arten von Psychopharmaka gibt es? Wie wirken sie?
Psychopharmaka sind eine extrem heterogene Gruppe von Medikamenten. Wir unterscheiden große Gruppen wie Antidepressiva, die wir zur Behandlung von Depressionen geben, Antipsychotika zur Behandlung von Schizophrenien und Psychosen, Tranquilizer und Hypnotika zur Behandlung von Angsterkrankungen und Schlafstörungen und dann einige kleinere Gruppen wie Antidementiva, die wird zur Behandlung von Demenzen geben oder Stimulanzien, Methylphenidat als typisches Beispiel zur Behandlung von Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen. Diese Medikamente haben sehr unterschiedliche Wirkmechanismen. Ganz generell haben sie aber die Eigenschaft, dass sie auf Botenstoffe im Hirn unserer Patienten einwirken und dort können sie fördern oder eher hemmen. Typisches Beispiel für Förderung des Botenstoff-Metabolismus für die Weiterleitung von Transmitter sind Antidepressiva, die fördern Serotonin und Noradrenalin. Typisches Beispiel für Hemmungen wären Antipsychotika, die blockieren Rezeptoren für Dopamin. Alle diese Medikamente wirken auf Botenstoffe, aber in sehr unterschiedlicher Weise, je nach Erkrankung und Substanzklasse, die wir betrachten.
Wann würden Sie die neue Generation von Psychopharmaka empfehlen?
Wir geben heute, nicht nur in Deutschland, sondern eigentlich weltweit eher neuere Medikamente als die alten. Die alten Medikamente sind entwickelt worden Ende der 50er, Anfang der sechziger Jahre. Das waren trizyklische Antidepressiva, das waren bestimmte Antipsychotika wie zum Beispiel Haloperidol als ganz klassisches Neuroleptikum. Diese Medikamente sind durch neuere Entwicklungen Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre ergänzt worden. Das waren bei den Antidepressiva selektive Serotonin-Rückaufnahmehemmer, bei den Antipsychotika die sogenannten atypischen Antipsychotika. Heute geben wir die neueren Substanzen vor allen Dingen deshalb, weil sie besser verträglich sind. Sie sind nicht unbedingt besser wirksam, das ist umstritten, aber sie sind generell besser verträglich. Deshalb haben sich die neueren Substanzen eindeutig durchgesetzt, also selektive Serotonin-Rückaufnahmehemmer werden heute viel, viel häufiger gegeben als trizyklische Antidepressiva und die atypischen Antipsychotika werden viel häufiger gegeben als die klassischen Antipsychotika. Im Einzelfall muss man sagen wenn die neueren Substanzen nicht ausreichend wirken, oder Nebenwirkungen haben die von Patienten nicht toleriert werden, dann kann man auch auf eine Substanz der älteren Generation zurückgreifen, weil die natürlich nach wie vor ihren Stellenwert haben und die sind nicht per se schlechter. Also die haben nach wie vor ihren Stellenwert bei Therapieversagen mit den neueren Substanzen oder bei Unverträglichkeit.
Was ist bei bzw. vor Beginn der Einnahme von Psychopharmaka zu beachten?
Ganz generell gilt, dass jedes Medikament auch Kontraindikationen hat. Das heißt bestimmte Medikamente dürfen bestimmten Patienten nicht gegeben werden. Das heißt das ist vorher zu prüfen. Wenn ein Patient z.B. Herzprobleme hat, eine gewisse kardiale Vorschädigung, dann muss man bei bestimmten Medikamenten EKG vorher machen und dann auch im Verlauf EKG Kontrollen machen. Bestimmte Medikamente haben einfach Kontraindikationen. Anderes Beispiel: Medikamente für ältere Patienten die schon Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit haben, bei denen darf man auch bestimmte Medikamente nicht geben, da diese deren Leistungsfähigkeit negativ beeinflussen. Das ist aber sehr individuell verschieden von Patient zu Patient und Medikament zu Medikament. Was man bei Beginn der Behandlung beachten sollte, ganz generell als grobe Richtschnur ist, wenn man Zeit hat fängt man langsam an, also mit einer niedrigen Dosis, und steigert dann langsam über einige Tage, manchmal auch im Einzelfall über einige Wochen, die Dosis Wirksamkeit und bei möglichst guter Verträglichkeit. Das hat in der Regel den Vorteil, dass Patienten weniger Nebenwirkungen haben. Manchmal bei sehr akuten Erkrankungen, wenn der Beginn der Erkrankung sehr plötzlich ist, bei einer akuten Psychose, muss man von vornherein mit einer wirksamen, hohen Dosis beginnen. Das wird dann aber auch in der Regel gut vertragen. Wenn man Zeit hat in der Klinik und auch ambulant, sollte man sich diese lassen, um eine möglich nebenwirkungsarme Therapie zu gewährleisten.
Welche Nebenwirkungen können Psychopharmaka haben?
Psychopharmaka haben eine große Variabilität von Nebenwirkungen. Das hängt sehr von der Substanz ab. Wir unterscheiden Nebenwirkungen die akut auftreten, von Nebenwirkungen die langfristig bedeutsam sind. In der Akuttherapie muss man einfach sich wirklich jede einzelne Substanz angucken. In der Langzeittherapie können Nebenwirkungen relevant sein, die in der Akuttherapie überhaupt keine Bedeutung haben. Typisches Beispiel, sexuelle Funktionsstörung. Wenn Sie an Depressionen leiden, werden Sie in den ersten Tagen, Wochen der Behandlung nicht unbedingt an Sex denken. Das wird aber, wenn Sie dann langfristig das Medikament einnehmen, Ihre Bereitschaft das Medikament einzunehmen erheblich beeinträchtigen, wenn Sie keine Lust mehr haben auf Sex oder wenn Sie Erektionsstörungen haben. Das ist etwas was man immer im Kopf behalten muss, was man auch nachfragen muss, was gerne vergessen wird. Anderes Beispiel ist Sedierung, Schläfrigkeit. Am Anfang der Behandlung haben Patienten oft Schlafstörung und da ist Sedierung sinnvoll. Wir wollen, dass Patienten schlafen, gerade auch erregte Patienten. Wenn Sie dann das Medikament längerfristig weitergeben, wird das ein Problem sein, wenn die Fahrtüchtigkeit eingeschränkt ist oder die Möglichkeit am Straßenverkehr überhaupt ganz teilzunehmen oder auch zu arbeiten. Ein anderes Beispiel ist die Gewichtszunahme. Gewichtszunahme spielt am Anfang, in den ersten Tagen bis Wochen oft keine große Rolle, langfristig kann das ein großes Problem werden. Wir haben Patienten, die nehmen unter Einsatz einer Psychopharmakotherapie 20-30 kg zu und das ist natürlich absolut nicht tolerabel. Früher war das weniger wichtig. Heute wissen wir, das ist eine Nebenwirkung die kann man nicht hinnehmen und wenn Sie schon in den ersten 4 Wochen 3 -5 kg an Gewicht zugenommen haben, dann sollte man tatsächlich auch da schon überlegen das Präparat zu wechseln, weil wir heute wissen, die Gewichtszunahme erreicht oft erst ein Plateau nach 8-12 Monaten und dann können Sie enorm Gewicht zugenommen haben. Und das sind natürlich dann Nebenwirkungen, die wirklich auch die langfristige Lebensqualität beeinträchtigen und die Bereitschaft auch ein Medikament langfristig einzunehmen, selbst wenn es wirksam ist.
Wie lange sollten/können Psychopharmaka eingenommen werden?
Das ist sehr abhängig von der Erkrankung, von der Substanzklasse und von der einzelnen Substanz und von der Indikation mit der ich ein Medikament gegeben habe. Manche Medikamente gibt man nur kurzzeitig, wenn ich also einen akuten Angstzustand oder akute Unruhe behandeln möchte, dann kann es sinnvoll sein einen Tranquilizer wenige Tage oder bis maximal wenige Wochen einzunehmen. Dann tritt auch eine Gewöhnung ein, dann ist es zum Teil gar nicht sinnvoll und auch davon abzuraten ein Medikament längerfristig einzunehmen. In vielen Fällen ist es aber durchaus sinnvoll über die Akuttherapie hinaus eine längerfristige Therapie zu machen und das gilt z.B. für Depressionen oder Schizophrenien, wo sie ja nicht nur die akute Krankheitsepisode behandeln, sondern auch darauf ihr Therapieziel gerichtet ist Wiedererkrankungen zu verhindern. Hier ist es sinnvoll und das sagen auch alle internationalen Leitlinien, das Medikament oft langfristig einzunehmen. Wenn Sie eine erste depressive Episode haben und mit einem Antidepressivum behandelt worden sind, wird man Ihnen empfehlen ein solches Medikament 9 bis 12 Monate einzunehmen und dann möglicherweise in Absprache mit Ihrer Therapeutin oder Ihrem Therapeuten langsam abzusetzen. Wenn Sie dann mehrere weitere Episoden gehabt haben, wird man Ihnen möglicherweise raten das Medikament monatelang oder sogar jahrelang bis lebenslang einzunehmen. Dies ist sehr vom individuellen Fall abhängig.
Welche Langzeitfolgen der Psychopharmaka muss ich beachten?
Das ist ein Thema das im Moment weltweit ganz intensiv diskutiert wird und zwar nicht nur unter Experten, sondern auch unter Laien, unter Patienten und Angehörigen. Gibt es langfristige Folgeschäden einer langfristigen Psychopharmakotherapie? Und da wird besonders intensiv im Moment diskutiert das Thema: Führen Antipsychotika zu, ich sag jetzt mal platt, Hirnschrumpfung. In der Laienpresse wird gerne von Hirnschrumpfung gesprochen; wir sprechen von Hirnvolumenminderung. Tatsächlich kann man, wenn man kernspintomographisch das Volumen des Hirn damit misst, kann man nachweisen, dass im Laufe einer langfristigen Therapie mit Antipsychotika, also Medikamenten gegen Schizophrenie, bestimmte Hirnregionen kleiner werden. Wir wissen aber nicht, was das funktionell bedeutet, das heißt wir wissen nicht was hat das klinisch für eine Bedeutung. Das heißt, das ist ein Befund der im Raum steht, dessen Bedeutung wir nicht kennen. Trotzdem muss man sagen es gibt jetzt eine intensive Diskussion darüber, dass man im Einzelfall doch mal hinterfragt: Muss wirklich jeder einzelne Patient auf eine Dauertherapie eingestellt werden? Muss ich immer in Kauf nehmen, dass es zu solchen Hirnveränderungen kommt, oder muss ich vielleicht dann doch manchmal wirklich im Einzelfall kritisch hinterfragen oder besser abwägen: Den Nutzen einer langfristigen Pharmakotherapie gegen den möglichen Schaden. Aber das ist auch im Moment Gegenstand einer intensiven Forschung, an der wir in Aachen auch sehr beteiligt sind. Man sollte aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und wenn man in der Presse liest, Neuroleptika führen zu Hirnschrumpfung, dass man jetzt sagt diese Medikamente, von denen sollte man die Finger lassen. Das ist wäre eine völlige Überreaktion. Diese Medikamente sind für viele Patienten absolut segensreich und deshalb sollten Sie, wenn Sie Zweifel haben, ob dieses Medikament wirklich bei Ihnen indiziert ist, mit Ihren Behandlern darüber sprechen.
Kann ich von Psychopharmaka abhängig werden?
Psychopharmaka stehen in dem Ruf, dass sie abhängig machen. Das muss man aber ganz klar einschränken auf eine kleine Gruppe von Substanzen. Es gibt bestimmte Substanzen, die haben ein gewisses Abhängigkeitsrisiko und das sind insbesondere Tranquilizer und Hypnotika. Also Substanzen, die gegen Angsterkrankungen und bei Schlafstörungen gegeben werden, die sogenannten Benzodiazepine. Diese Medikamente können, wenn sie langfristig eingenommen werden, abhängig machen. Andere Medikamente, Antidepressiva Antipsychotika, und viele andere Medikamente machen sicherlich nicht abhängig. Insbesondere dann nicht, wenn man wirklich die typischen Abhängigkeitskriterien, woran wir eine Abhängigkeit festmachen, zugrunde legt. Also Dosissteigerung, Kontrollverlust, ständige Beschäftigung mit der Beschaffung. Das passiert bei diesen Substanzen nicht. Wenn Sie abhängig definieren als „von dem Medikament abhängig sein“, weil sonst die Erkrankung wieder auftritt – dann muss man sagen, ja, dann sind Sie im Zweifelsfall von Ihrem Medikament abhängig, die Erkrankung kommt möglicherweise wieder, sowas kann passieren. Aber in diesem Sinne sind Sie ja auch abhängig, wenn Sie einen Bluthochdruck haben und die Antihypertensiva (Blutdruckmittel) absetzen. Dann geht auch Ihr Blutdruck wieder hoch oder wenn Sie Diabetiker sind und setzen Ihr Insulin ab, geht auch Ihr Blutzucker wieder hoch. Dann sind Sie auch von den Medikamente in diesem Sinne abhängig. Aber im klassischen Sinne, wie wir Abhängigkeit definieren, sind die meisten Psychopharmaka unproblematisch.
Wie kann ich die Nebenwirkungen von Psychopharmaka reduzieren?
Ganz generell gilt hier eine möglichst niedrige Dosis geben, also die niedrigste noch wirksame Dosis und die ist für jeden einzelnen Patienten zu finden. Nebenwirkungen treten immer dosisabhängig auf. Hohe Dosen machen mehr Nebenwirkung als niedrige. Ich suche also immer die niedrigste von Patienten tolerierte, aber noch wirksame Dosis. Wenn ich zu wenig gebe , nützt es dem Patienten auch nicht. Es gibt eine Ausnahme von dieser Regel, das sind die sogenannten Cholinesterasehemmer, die man bei Demenzen gibt. Da sagt man: Die Dosis so hoch steigern, wie gerade noch vom Patient toleriert wird. Aber ich denke bei allen anderen Indikationen wird man immer versuchen die Dosis so niedrig wie möglich zu wählen. Aber sie sollte wirksam sein. Wenn Nebenwirkungen trotzdem auftreten und das kann auch bei einer niedrigen Dosis sein z.B. Gewichtszunahme unter Antipsychotika, wenn das passiert und auch durch eine Dosisreduktion nicht zu vermeiden ist, sollte man das Präparat wechseln. Nebenwirkungen sind nicht zu tolerieren.
Was muss bei der langfristigen Einnahme von Psychopharmaka beachtet werden?
Blutparameter zum Beispiel machen oder auch mal ein EKG oder ein EEG kontrollieren. Das ist immer von der Substanz abhängig, aber wenn ich ein Medikament langfristig einnehme und das gilt nicht nur für Psychopharmaka, dann sollte man bestimmte Parameter mal messen, z.B. Leberwerte, denn bestimmte Medikamente können zu einer Erhöhung der Leberwerte führen, dann sollte ich regelmäßig die Leberwerte bestimmen. Bestimmte Medikamente können zu Veränderungen des EKGs führen, sollte ich das EKG sehr gut kontrollieren. Bei bestimmten Medikamenten wie zum Beispiel Lithium muss man regelmäßig den Medikamentenspiegel messen, weil da immer das Risiko besteht. Die haben eine sogenannte enge therapeutische Breite, dürfen nicht so hoch eingestellt werden. Da muss man den Medikamentenspiegel obligat kontrollieren. Also sind, abhängig von der Substanz, mehr oder minder mehr Kontrolluntersuchungen notwendig.
Welche Alternative gibt es zur Einnahme von Psychopharmaka?
Bei leichten Störungen ist ganz generell immer überhaupt erstmal zu fragen: Ist eine Psychopharmakotherapie indiziert, z.B. bei leichten Depressionen? Die deutsche Leitlinie sagt, dass eine antidepressive Pharmakotherapie sollte bei einer leichten Depression nicht durchgeführt werden, jedenfalls nicht von Beginn an. In dem Moment, wo eine Erkrankung einen bestimmten Schweregrad erreicht, kann man zu einer Pharmakotherapie greifen. Dann gibt es natürlich immer auch ergänzende Maßnahmen, die allerdings dann auch manchmal eher prophylaktischen Wert haben. Also zum Beispiel Bewegung, Sport, Ernährung, Meditation, das sind alles Maßnahmen, die die langfristige Genesung des Patienten fördern, die prophylaktisch wirken, das wissen wir heute aus vielen Studien. Wenn Sie etwas für psychische Gesundheit tun wollen, können Sie sehr viel tun. Durch Bewegung, Ernährung, Meditation, solche Dinge. Dann natürlich als Alternative zur Pharmakotherapie die Psychotherapie. Das ist natürlich immer die wesentliche Therapieform, die man immer in Erwägung ziehen muss, und die auch eigentlich immer bei jeder Art von Therapie immer dazu gehört, im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplan.
Können auch Scheinmedikamente/Placebo Depression lindern?
Ein Placebo ist oft wirksam. Aus klinischen Studien wissen wir, wenn man gerade bei Depression z.B., wenn man ein Arzneimittel gegen Placebo doppelblind prüft, das heißt weder der Patient noch ich als Therapeut wissen was er bekommt, das Arzneimittel oder das Placebo. Dann wissen wir Placebo wird zu einem recht hohen Anteil sogar zu einer Verbesserung der Depression führen und die Unterschiede zwischen Mittel und Placebo sind gar nicht mal so groß, wie man sich das gerne wünschen würde. Das heißt Placebo führt oft zu einer Verbesserung, gerade bei leichten bis mittelschweren Erkrankungen. Bei schweren Erkrankungen wird der Placeboeffekt wahrscheinlich kleiner, sodass wir bei schweren Erkrankungen mit einem geringeren Placeboeffekt rechnen müssen. Das Problem ist den Placeboeffekt zu nutzen, denn es gilt in Deutschland zumindest als nicht akzeptiert einem Patienten ein Placebo zu geben von vornherein. Wir können den Placebo-Effekt also nicht so nutzen, einfach auf der Station oder in der Praxis nur noch Placebos austeilen. Man muss aber wissen, der Placeboeffekt ist ein mächtiges Instrument im Rahmen der Therapie. Und zum Placeboeffekt gehört eben nicht nur die Verabreichung einer Zuckerpille, sondern der gesamte soziale Kontext. Wenn ich als Therapeut weniger an die Therapie glaube, wird sie weniger gut wirken, das heißt Placeboeffekt ist auch Patienten-Therapeuten-Interaktion, die Wirksamkeit des Teams, der gesamte Kontext unter dem ich behandle. Das ist der Placeboeffekt und den können wir während der Behandlung therapeutisch nutzen.
Gibt es Neuentwicklungen in der medikamentösen Therapie?
Hier muss man leider kritisch sagen, dass wir seit etwa der Jahrtausendwende einen Mangel an neuen Medikamenten haben. Wir sprechen von der Krise der Psychopharmakologie. Die neueren Antidepressiva, die selektive Serotonin-Rückaufnahmehemmer, die selektiven Serotonin-Noradrenalin-Rückaufnahmehemmer sind Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre auf den Markt gekommen. Die sogenannten atypischen Antipsychotika sind in den 90er Jahren ganz überwiegend auf den Markt gekommen und nach dem Jahr 2000 hat es wenig wirkliche Innovationen gegeben. Man kann von schrittweisen, kleinen Verbesserungen sprechen, von der Erweiterung des Arzneimittelschatzes, aber dass wir wirklich innovative Wirkmechanismen neu entdeckt hätten, das ist leider nicht der Fall. Wir stehen im Moment wo der Situation, dass wir einen Mangel an neuen Arzneimitteln haben und darunter leiden nicht nur Therapeuten sondern auch Patienten, denn viele unserer Patienten können wir nach wie vor nicht in dem Ausmaße helfen, weder durch psychotherapeutische noch durch pharmakologische Maßnahmen, wie wir uns das wünschen.
Welche Frage wird Ihnen sehr häufig von Patienten gestellt?
Viele Patienten befürchten, dass durch ein Psychopharmaka sich ihre Persönlichkeit verändert, dass man also derart ins Hirn eingreift, dass man durch das Medikament ein anderer Mensch wird. Darauf antworte ich in der Regel und davon bin ich überzeugt, dass das nicht eintritt. Man wird kein anderer Mensch. Im Gegenteil: Stellen Sie sich vor, Sie leiden an einer schweren Psychose, Sie hören Stimmen, Sie fühlen sich verfolgt. Sie sind derart durch Ihr Wahnsystem in Ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Das Medikament erlaubt Ihnen erst wieder Ihre eigentliche Persönlichkeit zurückzugewinnen. Das Medikament erlaubt Ihnen wieder ins Leben zurückzukehren. Man muss sagen, es gibt einzelne Befunde nach denen sich schon bestimmte Wahrnehmungsweisen, also Emotionalität, dass die sich unter einer langfristigen Pharmakotherapie verändern können. Dass eine gewisse emotionale Abstumpfung erlebe, das berichten viele Patienten. Das führt dann bei vielen Patienten dazu, dass sie das Medikament dann wieder absetzen. Das ist sicherlich ein Problem. Das wird man immer vom Einzelfall abhängig machen müssen, aber generell gilt, dass der Nutzen meist überwiegt, wenn man zwischen Risiko und Nutzen abwägt.
Was halten Sie für die Prävention und für die Behandlung von Depression o.Ä. für besonders wichtig?
Das ist eine sehr wichtige Frage, weil man natürlich am besten eine psychiatrische Erkrankung verhindert durch Prävention. Es ist immer schwerer eine Erkrankung zu behandeln, als sie zu verhindern und da gibt es, dass wissen wir aus jahrzehntelanger Forschung, eine ganze Reihe von protektiven Faktoren, wir sagen auch Resilienzfaktoren, die den Menschen stärker machen. Dazu zählen zum Beispiel ein intaktes soziales oder familiäres Umfeld, stabile soziale Beziehungen, ein paar gute Freunde mit denen ich mich regelmäßig austausche, Familie ist ein ganz wichtiger Faktor, auch Religion und Spiritualität können wichtige Faktoren sein, die präventiv wirken. Dann ganz generell Ernährung. Relativ fleischarme Ernährung muss man sagen wirkt wahrscheinlich präventiv, wenn man nicht sogar sagen muss eine vegane Ernährung ist da eher positiv in dieser Hinsicht. Bewegung ist ganz sicher ein präventiver Faktor für psychische Erkrankungen und zwar nicht nur für Depressionen, sondern auch für andere Erkrankungen. Achtsamkeitsbasierte Meditation, also bestimmte Meditationstechniken, die mich einfach mehr im Hier und Jetzt erden und nicht so sehr über die Vergangenheit oder über die Zukunft nachdenken lassen. Das kann man lernen. Denkstil kann man lernen, positiver Denkstil kann man lernen. Das sind alles Faktoren, die die Resilienz gegenüber psychiatrischen Erkrankung erhöhen.
Welche Veröffentlichung haben Sie gemacht, die für Ihre Patienten besonders relevant ist?
Wir haben 2016 in der renommierten Zeitschrift Lancet Psychiatry eine Studie veröffentlicht, die wir in Deutschland multizentrisch durchgeführt haben. In dieser Studie ging es darum: Sind die Antipsychotika der zweiten Generation, die atypischen Antipsychotika, besser als die Medikamente der ersten Generation, also die klassischen Antipsychotika. Das haben wir mit einer Förderung des Bundes multizentrisch gemacht. Wir haben diese Studie federführend in Aachen durchgeführt und wir haben diesmal, das war das Besondere an dieser Studie, nicht geguckt, ist die eine Gruppe von Medikamenten besser als die andere hinsichtlich der Psychopathologie, also Stimmen hören, Wahn oder so etwas. Wir haben nach Lebensqualität geguckt, der primäre Endpunkt, wonach wir unsere Studie ausrichten war Lebensqualität. Tatsächlich konnten wir in dieser Studie erstmals zeigen, dass die zweite Generation hinsichtlich der Lebensqualität signifikant besser waren als die Medikamente der ersten Generation. Nach einem halben Jahr, haben die Patienten die mit atypischen Antipsychotika behandelt wurden, ihre Lebensqualität als besser eingeschätzt als Patienten, die Medikamente der ersten Generation erhalten haben. Und das war letztendlich so ein Befund auf den man gewartet hat, denn wir haben alle den Eindruck, dass die neuen Medikamente von den Patienten mehr gewünscht werden, aber in den bisherigen großen Studien hat man nie Unterschiede festgestellt. In dieser Studie konnten wir das zeigen.
Inwieweit haben Lebenseinstellung, Ernährung oder körperliche Fitness Einfluss auf die Prävention oder den Behandlungserfolg?
Alle diese Faktoren haben einen präventiven Wert, das heißt sie erhöhen die Resilienz des Patienten gegenüber psychischen Erkrankungen. Aber sie gehören auch in den Behandlungsplan, wenn dann mal eine Erkrankung eingetreten ist. Das sind immer Faktoren die man mit berücksichtigen sollte. Wir sollten nicht nur so streng in den Kategorien Psychotherapie und Pharmakotherapie denken, wenn wir den Patienten behandeln, sondern immer auf diese Soft-Faktoren mitberücksichtigen. Wir sollten die Patienten aufklären, dass eine vegetarische Ernährung gut für die psychische Gesundheit ist. Dass Bewegung wichtig ist und wir sollten Bewegung auch in den Behandlungsplan integrieren. Das macht man intuitiv schon seit Jahren in der psychiatrischen Therapie, indem man Patienten auch animiert sich zu bewegen, spazieren zu gehen, Sport zu machen. Das gehört heute in den Tagesablauf einer psychiatrischen Klinik absolut rein. Man sollte auch versuchen Faktoren wie achtsamkeitsbasierte Meditation, Strukturierung des sozialen Umfeldes, mit in die Therapie miteinzubeziehen. Man sollte die Patienten darüber aufklären, dass Meditation, Spiritualität, Kontakt zu Freunden, Angehörigen, dass das wesentliche Behandlungsfaktoren sind, die dazu führen können, dass die langfristige Behandlungserfolg erhöht ist.
Kann Vitamin D therapeutisch bei Depression genutzt werden?
Generell muss man erstmal sagen Vitamin D hat jetzt zunächst mal in dieser Breite keinen Stellenwert in der psychiatrischen Therapie. Aber wir wissen, dass gerade bei älteren Menschen im Winter Vitamin D Spiegel oft zu niedrig sind. Ältere Menschen, da sie weniger rausgehen und im Winter natürlich, da die Sonneneinstrahlung geringer ist und Vitamin D ist ein lichtabhängiges Vitamin. Also unter bestimmten Bedingungen kann Vitamin D sinnvoll sein und dann kann es tatsächlich auch einen gewissen therapeutischen Sinn haben, aber nicht in dem Sinne, dass zweifelsfrei die Wirksamkeit von Vitamin D sowie von einem synthetischen Arzneimittel geprüft worden wäre. Aber es gehört sicherlich immer mit dazu, wenn man ältere Menschen mit einer saisonal auftretende Depressionen vor sich hat, sollte man im Hinterkopf haben, hier kein Vitamin D Mangel vorliegen, und man sollte natürlich auch hier an die Prophylaxe denken. Also im Winter mal einen Vitamin D Supplement einzunehmen kann sinnvoll sein, einfach um sich auch tatsächlich von der Entstehung einer Depression zu schützen.
Infos zur Person
Inzwischen bin ich nicht mehr in Aachen, sondern am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim tätig. Hier bin ich Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging.
Ich habe mich seit Beginn meiner beruflichen Laufbahn vor fast 30 Jahren sehr intensiv mit psychopharmakologischer Forschung befasst. Ich habe im Laufe dieser vielen Jahre viele neue Pharmaka, sehr innovative Pharmaka klinisch geprüft. Ich habe mich auch im Rahmen meiner Forschung z.B. mit bildgebenden Verfahren sehr intensiv bemüht Wirkmechanismen dieser Substanzen aufzuklären, zu verstehen: Wie wirken sie im Hirn unserer Patienten und dann letztendlich auch wieder Forschung und eigene klinische Prüfungen initiiert, die dazu beitragen sollen, die langfristige Effekte einer Dauertherapie mit Psychopharmaka am Patienten zu überprüften. Ich habe im Rahmen dieser Tätigkeit zahlreiche Ämter innen, die auch mit Psychopharmakologie zu tun haben. Zum Beispiel bin ich Leiter des Referates Psychopharmakologie der DGPPN, unseres Fachverbandes.
Lebenslauf:
Studium
Berufliche Tätigkeiten
SS 1983-WS 1988/89 | Medizinstudium an der Universität zu Köln |
07/1989-01/1993 | Arzt im Praktikum, später Arzt/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz |
02/1993-05/1994 | Assistenzarzt an der Neurologischen Abteilung des Brüderkrankenhauses Trier |
06/1994-12/1994 | Arzt/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz |
01/1995-12/1995 | Clinical and Research Fellow im Department of Radiology, Johns Hopkins Medical Institutions, Baltimore, USA, gefördert durch ein Ausbildungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) |
Seit 06/1996 | Visiting Fellow am Department of Radiology, Johns Hopkins Medical Institutions, Baltimore, USA |
01/1996-08/1996 | Arzt/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz, Molekularbiologisches Labor Prof. Dr. H. Lüddens |
08/1996-02/2004 | Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz |
2001-2003 | Sprecher der Klinischen Forschergruppe (DFG) „Untersuchungen am GABA-Benzodiazepin-System bei psychopharmaka-induzierten und krankheitsbedingten Verhaltensänderungen“ |
03/2004-11/2004 | Vertretung einer C3-Professur für Sozialpsychiatrie am Universitätsklinikum Aachen, RWTH Aachen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Stellv. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie |
Seit 12/2004 | C3-Professor für Experimentelle Neuropsychiatrie am Universitätsklinikum Aachen, RWTH Aachen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Stellv. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie |
Seit 2018 | Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim. Lehrstuhlinhaber (W3-Professor) an der Medizinischen Fakultät der Universität Mannheim und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. |
Wissenschaftliche Prüfungen und Grade
02/1990 | Promotion an der Fakultät für Klinische Medizin II der Universität Heidelberg (Prof. Dr. Dr. H. Stierlin) über das Thema: System Psyche. Eine Untersuchung auf der Basis einer Metatheorie Erkenntnistheorie. |
03/1994 | Arzt für Psychiatrie |
01/1995 | Zeugnis der Educational Commission for Foreign Medical Graduates, Philadelphia, USA (Basic Science Examination 6/1994, Clinical Science Examination 9/1994) |
02/1999 | Zusatzbezeichnung Psychotherapie |
08/2001 | Habilitation im Fach Psychiatrie im Fachbereich Medizin der Universität Mainz mit Verleihung der Venia legendi für das Fach Psychiatrie. Thema der Habilitationsschrift: Biologisch-psychiatrische Forschung mit Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und Single-Photon-Emissions-Computer-Tomographie (SPECT): Quantifizierung von Neurotransmitterrezeptoren und Neurotransmittermetabolismus |
Auszeichnungen
- Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn (12/1985-04/1989)
- Ausbildungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (01/1995-12/1995)